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Thomas Ritz – Die Geburt eines Malers

Jean-Christophe Ammann

In der Konzentration auf ein kleines Format (30x25cm) schafft Thomas Ritz Monumentalität. Es ist eine alte Geschichte: Man bitte jemanden, die Abbildung eines Bildes ohne Massangaben auf seine reale Grösse zu schätzen. Ich bin ziemlich sicher, dass jeder im Falle der Arbeiten von Thomas Ritz (Öl auf Papier) die Ausmasse sehr viel grösser, wenn nicht sogar als gross taxieren würde.

Thomas Ritz gelingt souverän die Vergegenständlichung von Sinneswahrnehmung. Ich betone das Wort «Sinn», weil das Haptische, das Atmosphärische, Gerüche, das Akustische, Teil seiner bildnerischen Erkundungen sind. «Vergegenständlichung» meint hier: Das Synergetische der Sinneseindrücke, eine diffuse oder dezidiert aufgeladene Emotionalität, gegenständlich zu infiltrieren. Denn nicht der Gegenstand ist die primäre Absicht, wohl aber das aus einer Qualifikation aller Schichten Gewordene, in Form eines Gegenstandes. Deutlicher: In Form eines Bildgegenstandes, nicht oder weniger in Form eines Gegenstandes im Bild.

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Darüber müssen wir jetzt reden: Jede Kunst kommt aus der Erinnerung. Jedoch geht es nicht darum, in die Vergangenheit zurückzukehren, sonder diese in der Gegenwart festzumachen, als Gegenwartsbewusstsein produktiv werden zulassen. Gegenwart und Erinnerung greifen, fliessen ineinander, begegnen sich konfrontativ, überlappen sich, machen Widerstände spür- und sichtbar.

Thomas Ritz hat den Nagel auf den Kopf getroffen, denn er verdichtet Sehen und Erkennen als Schwerkraft. Er stemmt sich gegen die mediale Omnipräsenz und die virtuelle Willkür, aber er tut es nicht explizit! Seine Arbeiten sind deshalb so zeitgenössisch, weil sie die Zeit «danach» antizipieren: Das elektronische Universum hat sich verselbstständigt, die allgemeine Richtung in der Kunst beträgt 360 Grad, und der Mensch findet zu sich selbst zurück.

Thomas Ritz ruft in uns Bilder wach, wie wir sie bis in die Kindheit verfolgen können. Er ist in der Lage, die kollektive Biografie zu individualisieren, Kunstgeschichte aus der Geschichte heraus zu lösen. – Jedes seiner Bilder ist ein zeitloses Gedicht. Die Fliehkräfte werden gebündelt. Die Form hält sie zusammen. Wie Thomas Ritz über die Form Inhalte transparent macht, geht unter die Haut.

Man muss die Worte finden für seine Arbeiten, für sein Gespür für die Farben, vor allem für das Licht. Die Werke haben keine Titel, so ergibt sich ein Fluidum.

Es ist Winter. Verschneite Furchen, ein blasser Himmel, zwei kahle Stämme, ein dunkler Hügel. Einer Erscheinung gleich, ein Schaf. Es könnte ein Reh sein, das Witterung aufnimmt, es schaut aufmerksam dem Betrachter entgegen. Man spürt die Kälte, die Feuchtigkeit in den Braun- und Weisstönen.

Ein wässrig grüner Dunstschleier überzieht das Blatt. Das Meer rollt, wogt transparent bis zur Bildmitte. Über dem Horizont taucht zur Hälfte ein Mädchenkopf empor, die Haare mittig gescheitelt, die Augen sind geschlossen. Man spürt den Schmerz in seinem Antlitz. Es ist als stünde man am Strand, den rauen Wind im Gesicht, nicht dass die Augen tränen würden, aber übermächtig schiebt sich die sprachlose Erinnerung vor das innere Auge.

Als würde in einem Sandsturm die Hand das weibliche Geschlecht zwischen den offenen Beinen bedecken. Wir kennen die Geste. Diese weibliche Hand, die von oben ins Bild greift, wird zu einem «noli me tangere». Umgekehrt ist es eine lockere, keine definitive Geste. Es ist eine scheue Geste, die sich öffnen kann, nicht zuletzt für sich selbst.

Der Blick geht auf den wuchtigen Unterbau einer Autobahnbrücke. Sie nimmt die Hälfte des oberen Bildfeldes ein. In der unteren Hälfte öffnet sich die Landschaft. In hellem Licht sieht man auf einem hügligen Gelände die Umrisse einer kleinen «toskanischen» Stadt. Der Unterbau der Autobahnbrücke wird zum schwarzen Himmel, zum brutalen Balken vor dem Auge. – (Wir kennen die Situation: Autobahnen zerschneiden die Landschaft, verweisen die in Serpentinen sich hochschraubende Strasse in eine andere Zeit.) Der «schwarze Himmel» ist nicht negativ konnotiert. Seine Notwendigkeit ist ein Bruch. Einer von vielen Brüchen in der Erfahrung des Selbst. Man nimmt ihn mit der Melancholie des Unausweichlichen zur Kenntnis.

Es gibt ein Blatt, in Dunkel gehüllt, mit einem schmalen Band im unteren Teil, das von farbigen Splittern durchsetzt ist. Es könnte auch eine Landschaft sein. Da fällt mir eine nächtliche Beobachtung von Charles D’Ambrosio ein: «Auf dem Sand schien eine Fähre, die Fenster strahlend wie Barren aus Gold, eine volle Ladung Licht aus der Stadt zu schiffen und nahm Kurs auf die düsteren Landspitzen von Bainbridge Island.»

Könnten es auch Träume sein, die die Bilder von Thomas Ritz hervorrufen? Zum Beispiel jenes, in dem aus einem dunklen, hochgeschobenen Vordergrund sich metallblaue Stämme und Geäst in einen zergliederten Klangkörper verwandeln. Ein sandiger Grund schafft sich sanft fluktuierend in die Tiefe. Die Kälte ist nicht kalt, aber sie ist ungewiss. Es ist, als ob die Ahnung den Weg durch das sperrige Unterholz finden muss. Welche Farbe, welche Temperatur haben die Träume?

Es gibt den Durchblick. Als hätte eine Faust ein Pergamentpapier durchschlagen. Ein gefrorener Fjord erstreckt sich in die weite Ferne. Über einem schmalen, blauen Horizont wölbt sich der blasse Himmel. Das Gestade ist felsig. Nicht nur, dass man durch die Öffnung schaut, man schaut dem Betrachter über die Schulter. Ist Ratlosigkeit oder Staunen angesagt?

Eine Hand schiebt sich ins Bild. Leicht geschlossen, trängt sie einen Gegenstand auf den Fingern. Er ist amorph, es könnte ein Stein sein, jedoch erscheint er in seiner Helligkeit gewichtslos. Eine Schnur, um das Handgelenk gebunden, hält den Arm locker nach oben. «Eine weisse Motte fiel aus dem Himmel wie ein Blütenblatt, durch eine der Maschen im Zaun, und landete sanft auf meiner Hand. Die kühle Abendluft machte mir Gänsehaut auf den Armen.»  Die Aufhebung der Schwerkraft im Bild verhält sich umgekehrt zur Last des Gewissens in stürmischen Zeiten.

Ein Junge in knapp sitzender Badehose steht bis zu den Oberschenkeln im Wasser. Sein heller Oberkörper wird mit dem Hintergrund eins. Ein Birkenstamm ragt ins Bild, überdeckt sein Gesicht. Die Rinde bildet zwei dunkle Flecken, dort, wo die Augen sind, so dass der Junge zum Betrachter schaut. (151x122cm). – Ja, es gibt diesen Moment der Metamorphose, nicht nur im Märchen, wo man vom Betrachter zum allseits Betrachteten wird.

Man erkennt sie vage, diese stehende Erscheinung im nächtlichen Dunkel. Nur das Gesicht leuchtet blass, maskenhaft. Die Hosen reichen über die Knie. Die Person muss im Wasser stehen, denn sie wird schwach reflektiert. Erstaunlich aber ist, dass sie auch nach oben reflektiert wird. Ein halluzinierender Moment, beängstigend, weil einem der Boden unter den Füssen entgleitet. – So wie man Seelen begegnet, die nicht zur Ruhe kommen. Den Aberglauben kann man nicht einfach zur Seite schieben, weil er seit Urzeiten Teil der menschlichen Psyche ist, anthropologisch und animistisch verankert, im Wissen darum, dass die alleinige Rationalität in ein Desaster führen kann. Der schwimmende Mann unter Wasser (75x60cm) ist kein mythologisches Wesen, er irrt mit leerem, dunklem Blick herum, verloren. Seiner irdischen Existenz beraubt, sucht er nach Erlösung. Es ist in der Tat das beklemmende Bild eines Zombies.

Es gibt die Landschaften, stets so, als würde man vor ihnen verweilen. Dem Maler gelingt ein Zweifaches: Der Betrachter schaut das Bild an, und gleichzeitig fühlt er sich in das Bild versetzt. Das klingt irgendwie bekannt. Bei Thomas Ritz bleibt der Betrachter jedoch im Bild stehen, und zwar mit dem Blick des Künstlers, mehr noch mit dessen sinnlicher Wahrnehmung. Er spürt die Nässe, sieht die Überblendung der Formen im gleissenden Licht, spürt die Feuchtigkeit der Erde, atmet den Geruch des Wassers ein, den Moder der Pfützen und des Schrotts, aber auch den düsteren Himmel, die bewegte See mit der Steilküste.

Thomas Ritz ist in wenigen Jahren gelungen, was Wallace Stevens (1879-1955) als Dichtung bezeichnet: «Ein Suchen nach dem Unerklärbaren.»

Jean-Christophe Ammann 2013

English version

Thomas Ritz – The Birth of a Painter

Jean-Christophe Ammann

In focussing on a small format Thomas Ritz creates monumentality. It’s an old story: Ask someone to estimate the real size of the reproduction of a painting without measurements. I’m quite sure that, in the case of works by Thomas Ritz (oil on hand-made paper), everybody would guess them to be much larger, if not even big.

Thomas Ritz succeeds, with the greatest of ease, in concretizing sensory perception. I emphasize “sensory” because the haptic, the atmospheric, smells, the acoustical are part of his visual inquiries. Here, “concretization” means: to infiltrate representationally the synergetic of sensory impressions, a diffusively or decidedly loaded emotionality. For it’s not the motif that’s primarily intended, but what has become, out of a qualification of all layers, in the form of a motif. More clearly: in the form of a picture motif, not or not as much in the form of a motif in the picture.

That’s what we have to talk about now: All art comes from recollection. However, it’s not about returning into the past, but to attach recollection to the present, to let it become productive as awareness of the present. Present time and recollection interlock, merge into one another, confront each other, overlap, make oppositions perceptible and visible.

Thomas Ritz has hit the nail on the head, since he compresses seeing and understanding as force of gravity. He braces himself against the omnipresence of the media and virtual arbitrariness but he doesn’t do so in an explicit way! His works are contemporary for the simple reason that they anticipate the time “after”: the electronic universe has broken free, the general direction of art amounts to 360 degrees, and man finds his way back to himself.

Thomas Ritz brings back pictures, the way we can trace them back into our childhood. He is in a position to individualize collective biography, to remove the history of art from history. – Each one of his paintings is a timeless poem. Centrifugal forces are being bundled up. Form holds them together. The way Thomas Ritz renders contents transparent via form gets under one’s skin.

One has to find the words for his works, for his feeling for colours, especially for the light. The works have no titles, thus an aura results.

It’s winter. Snow-covered furrows, a pale sky, two bare tree trunks, a dark hillock. Like an apparition, a sheep. It could be a roe picking up the scent, attentively it looks at the beholder. One feels the cold, the dampness in shades of brown and white (P. 81).

A watery green haze covers the sheet. The sea is rolling, swaying transparently up to the painting’s centre. The upper half of a girl’s head surfaces above the horizon, with hair parted in the middle, the eyes are closed. One feels the pain in her countenance. It is as if one was standing on a shore, raw wind in one’s face; it’s not that one’s eyes would water, but speechless memories are pushing themselves overpoweringly in front of one’s inner eye (p. 4).

As if the hand would cover the female sex between open legs in a sandstorm. We are familiar with this gesture. Reaching into the picture from above this female hand turns into a “noli me tangere”. Conversely, it’s a lenient gesture, not a definite one. It’s a shy gesture which can open itself, not least for itself (p. 4).

The view is on the bulky substructure of a highway bridge. It takes up the upper half of the field of vision. In the lower half the landscape opens up. Brightly lit one sees the contours of a small “Tuscan” town on hilly ground. The highway bridge’s substructure turns into a black sky, a brutal beam in front of the eye. – (We know the situation: highways cutting up landscapes, expelling the upwards-twisting serpentine road into another period of time.) The “black sky” has no negative connotation. Its necessity is a rupture. One of many ruptures while experiencing the self. One takes note of it along with the melancholy of the inevitable (p. 80)

There’s one sheet, shrouded in darkness, with a small ribbon in the lower part interspersed with coloured fragments. It, too, could be a landscape. A nocturnal observation by Charles D’Ambrosio comes to my mind: “On the sands a ferry-boat, its windows gleaming like bars of gold seemed to take a full load of light out of the town, and heading for the somber promontories of Bainbridge Island.”1 (p. 78)

Could it also be dreams that give rise to Thomas Ritz’s paintings? For instance the one in which, out of dark, pushed-up foreground metal-blue trunks and branches, mutate to a fragmented body of sound. Fluctuating softly, a sandy ground works itself into the depth. The coldness isn’t cold, but it’s uncertain. It is as if presentiment must find the way through bulky undergrowth. Which colour, which temperature do dreams have? (p.78)

There is a glance through. As if a fist had made a hole in a sheet of greaseproof paper. A frozen fjord stretches into a far distance. The pale sky vaults above a narrow blue horizon. The shore is rocky. It’s not only that one looks through the opening, one looks down the nose of the beholder. What’s back in, perplexity or astonishment? (p. 76).

A hand pushes into view. Slightly closed it balances an object on its fingers. It is amorphous, could be a stone, though it appears weightless in its brightness. A string, wound around the wrist holds the arm up with ease. “A white moth fell from the sky like a petal, through one of the meshes in the fence, and landed softly on my hand. The cool evening breeze sends shivers down my arm.”2 The cancellation of the force of gravity in the painting is contrary to the burden of conscience in turbulent times (p. 3).

A boy in tight-fitting bathing trunks is standing up to his thighs in water. His bright torso becomes one with the background. A birch tree projects into the picture, covers his face. The bark makes two dark dots where the eyes are, so that the boy looks at the observer. – Yes, there really is this moment of metamorphosis, not just in fairy tales, where one mutates from the observer to the observed one on all sides (p. 6).

One discerns it vaguely, this upright apparition in nocturnal darkness. Only the face glows wanly, like a mask. The trousers pulled up, over the knees. Faintly reflected, the person must be standing in water. But what’s astonishing is that it’s also reflected upwards. A hallucinating moment, frightening, since the ground beneath one’s feet slips away. – The way one encounters souls which do not come to rest. Superstition can’t be put aside like that, because it’s part of the human psyche since primeval times, anchored anthropologically and animistic, knowingly that rationality alone can lead to disaster. The swimming man under water is not a mythological creature, he wanders about with dark and empty eyes, is lost. Deprived of his existence on earth he’s looking for redemption. It really is the stifling image of a zombie (p. 74).

The landscapes always are as if one would linger in front of them. The painter is doubly successful: The observer sees the painting, and feels himself carried off into the painting simultaneously. Somehow this sounds as if one’s heard it before. With Thomas Ritz the observer remains standing in the painting however, namely with the eyes of the artist, even more: with his sensory perception. He feels the wetness, sees the face-over of forms in glaring light, feels the humidity of the earth, breathes the smell of water, the mould of puddles and refuse, but also the dark skies, the rough sea with the line of cliffs.

Within a few years Thomas Ritz has succeeded in achieving what Wallace Stevens (1879-1955) has referred to as poetry: “A search for the inexplicable.”3

 

1 After Charles D’Ambrosio, “Dead Fish Museum”

2 Ibid.

3 After Wallace Stevens, “Planet On the Table”

 

Der flüchtige Horizont

Anna Wesle, Kuratorin Museum Franz Gertsch

„Thomas Ritz. Der flüchtige Horizont“. Bei der Vorbereitung dieser Ausstellung konnten wir aus einem breiten Oeuvre wählen und entschieden uns für Arbeiten aus den Jahren 2008 bis 2014. Thomas Ritz führt viele seiner Werke mit ungebundenen, lediglich in Wasser gelösten, Pigmenten aus, die er, sobald eine Schicht zu seiner Zufriedenheit aufgetragen ist, mit Acrylharz fixiert. Das Gemälde wird so Schicht um Schicht aufgebaut. Daneben arbeitet er auch mit Ölfarben, vor allem bei den kleineren Formaten. Der Bildgrund spielt ebenfalls eine Rolle, im Kabinett werden Sie Werke auf diversen Untergründen wie Leinwand, Papier, Holz oder Aluminium vorfinden. Die malerischen Oberflächen entfalten eine eigene, sinnliche Wirkung.

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Thomas Ritz beschäftigt sich in seinen Werken mit grundlegenden Fragen des Bildes und der Bildlichkeit. Ausgehend von Erinnerungen, eigenen Fotografien oder Bildmaterial aus den Medien entstehen Kompositionen, die im Malprozess ein Eigenleben entwickeln dürfen. Der Künstler lässt sich auch einmal von einem Bild überraschen. Gleichzeitig arbeitet er sehr überlegt mit und gegen die Grenzen des Bildraums, er schafft multiple Zonen, Horizonte und Ränder, die sich sowohl ergänzen als auch einander widersprechen können. Er schafft Leerstellen und Löcher, Brüche und Täuschungen. Das macht die Seh-Erfahrung bei der Betrachtung eines Werkes von Thomas Ritz zum Erlebnis. Der Betrachter ist gefragt, das Bild aktiv zu sehen und sich auf die verschiedenen Schichten und Ebenen einzulassen.

Das wahre Leben, seien es Erinnerungen an eine freie Kindheit in der Natur rund um Basel oder die Abbildung eines Unterwasser- Atombombentests der US-Amerikaner in den 1950er Jahren, wird in Bilder übersetzt, die Realismus und Figuration suggerieren jedoch gleichzeitig als Illusion und Lüge entlarvt werden. Thomas Ritz spricht sogar von der „Gefährlichkeit der Bilder“.

Der Mensch tritt in der Bildwelt von Thomas Ritz eher fragmentarisch auf, wir stoßen auf Hände, Körper, Gesichter, Knie, Haut. Man kann sich nicht nur in die Bilder mit den Augen hineinsehen sondern auch mit dem betrachtenden Körper hineinfühlen. Vorhänge und andere Stofflichkeiten betonen ebenfalls diese taktilen Qualitäten, wobei der Vorhang auch ein althergebrachtes Motiv aus der Malerei ist: Das Verhüllen und Zeigen, das Verbergen und Sehen. Das Sehen selbst wird ebenfalls thematisiert, ob es das Sehen des Betrachters ist oder ob es die Blicke des Tieres des Werkes „Echo“ sind, die uns entgegenschauen.

In der Mitte des Raumes befinden sich in einer Installation eine Serie von Fotografien von Thomas Ritz. Diese Aufnahmen sind allesamt im Atelier entstanden. Sie wurden nicht digital bearbeitet oder verändert, die verfremdenden Effekte und Überblendungen entstanden direkt beim Auslösen durch Eingriffe des Künstlers. Wir sehen Details aus dem Atelieralltag, wie den Becher mit schwarzer Farbe oder die Schuhe des Künstlers, wir sehen aber auch Details aus den eigenen Gemälden oder Szenen, die wie Außenaufnahmen wirken. Auch hier ist vieles anders, als es auf den ersten Blick scheint. Die Verschiebung des Fokus und das Fokussieren des einen oder anderen Details, das dadurch eine neue Bedeutung bekommt, sind Elemente, die uns auch in den Gemälden von Thomas Ritz begegnen.

Wir freuen uns sehr, diesem spannenden Basler Künstler seine erste Einzelausstellung in einem Schweizer Museum auszurichten.

Gegenwärtigkeit des Sichtbarwerdens

Sabine Arlitt, Kunsthistorikerin zur Ausstellung «Der flüchtige Horizont»

Burgdorf — Der Basler Maler Thomas Ritz (*1966) transformiert den Kabinettraum des Museums Franz Gertsch in einen Raum der Bilder. Bilder gleiten durch Bilder hindurch, Bilder entfalten szenisches Potenzial. Unauflösbar bleibt, ob Wahrgenommenes in der Gegenwärtigkeit des Sichtbarwerdens rückläufig oder vorwärts orientiert ist. Augenblicklich wird man gefangen genommen, in geschlossener Gesellschaft mit den Bildern nicht nur diesen, sondern auch sich selbst gegenüber ausgesetzt. Die Vorstellung, mit dem Blick das Gesehene zu beherrschen, wird in einer bildnerisch entwickelten Enttäuschung physisch spürbar in Frage gestellt.

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Für Thomas Ritz ist Malerei eine zutiefst existenzielle Angelegenheit. Man könnte, mit Blick auf diese melancholische Ästhetik, von einem poetischen Existenzialismus sprechen. In der vielschichtigen Malerei klingt das filmische Schaffen Andrej Tarkowskijs als wesensverwandte Strategie der Verbildlichung an. Wahrnehmung zuzulassen verlangt, die Konstruktion des Körperlichen durchlässig zu halten. Was sich dabei ereignet, entzieht sich der gängigen Logik. Erinnerungen, träumerische und halluzinatorische Elemente wie auch Impulse aus der Film- und Aussenwelt verwebt Thomas Ritz als synästhetisches Reizpotenzial mit inneren Bildern. In engster Verknüpfung mit dem Material wird Zeitlichkeit evoziert. Der dünne Farbauftrag verleiht den Bildern eine ambivalente Transparenz. Die evozierte Dehnbarkeit des Bildlichen lebt entscheidend von der Vielfalt der Bildträger, seien es Leinwand, Aluminium oder mit Wachs getränktes Papier, das an Haut erinnert.

Thomas Ritz’ gegenständliche Bilder wirken selbstverständlich, da sie gleichsam im Material aufgehoben sind. Er verzichtet auf den Zusatz von Bindemitteln und nutzt als Malmittel einzig Wasser und Pigmente. Bedeutsam ist auch der Einbezug von Fotografie, wobei Thomas Ritz die Blende durch seine Finger ersetzt. Ein Teil des eigenen Körpers realisiert somit die Lichtsteuerung. Bilder machen, wird pointiert als genuin menschliche Angelegenheit erfahrbar. «Der flüchtige Horizont» heisst die von Anna Wesle in Zusammenarbeit mit dem Künstler kuratierte Ausstellung, die das Vorhandensein einer unsichtbaren Konstruktion in den Bildern thematisiert. Unentwegt wird mit der Gravitation jongliert.

Kunstbulletin 2014

Landschaftsmalerei als Psychogramm

Simon Baur, Kunsthistoriker zur Ausstellung «Der flüchtige Horizont»

In den Bildern von Thomas Ritz verbinden sich Intuition und Handwerk zur Meisterschaft.
Es war still geworden, fast schon unheimlich. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel ist Thomas Ritz wieder präsent und zeigt in einer Kabinettausstellung im Museum Franz Gertsch in Burgdorf wie sich seine Malerei in den vergangenen Jahren entwickelt hat. Er offeriert mit seinen Bildern den Betrachtern eine zeitgenössische und eigenständige Theorie über Landschaftsmalerei, die nicht nur singulär, sondern gleichzeitig auch topaktuell ist.

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Weg zum Sehen 
Seine Bilder sind oft von fotografischen Vorlagen inspiriert, die er selbst produziert oder aus dem Internet herunterlädt, sie aber nur fragmentarisch in seiner Malerei einsetzt. Eines seiner grossen Bilder trägt den Titel «O.T. (Hardtack Umbrella)» und zeigt vereinfacht ausgedrückt ein Objekt vor einem Fenster. Thomas Ritz: «Es handelt sich dabei um die Bombe ‹Hardtack Umbrella› und einen Unterwassertest mit einer Explosionshöhe von etwa 400 Metern. Dieses Bild ist mir im Internet begegnet. Als Bildmotiv habe ich es dann mit einem fragmentarischen Studio-Trompel’Œil kombiniert, das vermutlich um die Jahrhundertwende als Hintergrund für Porträtaufnahmen benutzt wurde. Erst später als ich dieses Bild fertiggestellt hatte, sah ich auf Youtube verschiedene Videos dieses Kernwaffentests. Das Überraschende daran war, dass die Erscheinungsweise dieser gewaltigen Explosion nur einen Sekundenbruchteil währte und dann in eine verstörende Formlosigkeit versank.» Am unteren Bildrand sind eine Fensterbrüstung und ein Vorhang sichtbar. Im untersten Teil des Bildes befinden sich Fragmente von Gras oder Teile einer Landschaft.

Solche mehrteiligen Kompositionsschemen tauchen bei Thomas Ritz oft auf, der es folgendermassen erklärt: «Das Interessante daran ist ja, dass die fragmentarischen Bildteile plötzlich eine Mehrdeutigkeit erhalten, weil sie sich für das Sehen offen halten und das Auge durch das Bild wandern kann. Zum Beispiel die untere, angerissene Kante der Lamperie, sie kann in der Umkehrung als weisse Bergkette oder im Verbund mit dem unteren Bildteil, den Ästen und Steinen, auch als Wolke gesehen werden. Da wird eine Art Bewegung im Bild sichtbar, die nur in der Vergegenwärtigung, also im Betrachten, erfahrbar wird.»

Niederländische Inspiration 
Thomas Ritz interessiert eine gewisse Gegensätzlichkeit, das Aufbrechen einer Einheit die eine Bildfläche vorgibt. «Ich verwende immer wieder Motive, die eine solche Ambivalenz in sich tragen und direkt mit ihrer Sichtbarkeit als Bild zu tun haben. Dazu gehören der Spiegel, das Gesicht, der Körper und das vorhin angesprochene Fenstermotiv.»

Der Titel der Burgdorfer Ausstellung heisst «Der flüchtige Horizont». Die damit ausgedrückte Ambivalenz lässt sich auch in der niederländischen Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts beobachten. Die Flüchtigkeit der Horizonte war auch Ausdruck eines Lebensgefühls, in dem sich Aufbruch und Verlassenheit gleichermassen manifestiert.

Ansätze solcher Stimmungen zeigen sich auch in den vielen kleinen Ölskizzen, die einzelne Motive nur andeuten, deren Dynamik aber vor allem auf dem Prinzip der Ambivalenz fusst. Sie lassen das Auge lange orientierungslos, es wandert hin und her, um sich unverhofft an einer Einzelheit zu orientieren und von dort aus das Bild zu lesen. In malerische Sprache übersetzt, müsste man vom «non finito» als einer Technik sprechen, die bewusst auf die finite Ausführung zugunsten einer zusätzlichen Abstraktion verzichtet. Es sind Arbeiten, die in einem Arbeitsgang entstehen, sie geschehen einfach, sozusagen intuitiv, vielleicht auch unter Ausschluss des Denkens.

Wie in einer Improvisation umspielt Thomas Ritz anschliessend das Hauptmotiv, aus dem immer wieder neue Bilder entstehen. «Man kann sich der Omnipräsenz der Bilder nicht verschliessen, sie sind Teil unserer Wahrnehmung. Sie haben sich verselbstständigt, eine Flut von Bildern, die uns fragen lässt, was noch gemalt werden kann. Lassen wir uns doch überraschen.» Schön, dass dies auch mal ein Künstler sagt.

Bz, 23. Juni 2014

© Thomas Ritz | Update: 2024-04-24